In der Österreich-Kolumne der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 28.11.21 mit dem Titel „Wo paradox normal ist“, bezieht sich der Autor Dominik Prantl auf „rhetorische Arschbomben“ des ehemaligen österreichischen Innenministers, Impfstoff aus der Luft in Wien und landesweit geöffnete Skilifte. Mir ging beim Lesen der Gedanke durch den Kopf, was wohl der wunderbare Thomas Bernhard, lebte er noch, zu dieser realen Dystopie zu sagen oder zu schreiben gewusst hätte?
Ende Oktober reiste ich wieder einmal nach Österreich, ich bin normal dreimal im Jahr dort, um für jeweils mehrere Tage eine Klinik zu beraten. Aber was ist in Österreich schon normal? Weil die letzte berufliche Reise mit Flugzeug und Zug – wie an dieser Stelle berichtet – alles andere als normal war, entschied ich mich diesmal für das Auto (in das mein MTB hineinpasst) und machte Zwischenstation im nördlichen Elsass, wo ich sportlich mit dem Rad unterwegs war, so dass mir das Essen danach noch besser schmeckte.
Mein österreichisches Ziel sollte zunächst Maria Alm im Salzburger Land sein, wo ich eines der meditativen „PoSt-Apartments“ gebucht hatte. Von dort würde ich – nach ein paar Ruhetagen – meine Arbeit ansteuern.
Ich würde – dreifach geimpft – der einzige Gast im ganzen Haus sein, auf das ich durch eine Empfehlung in der SZ (Rubrik „Hotel Europa“, Magazin der SZ vom 7.10.21) gestoßen war. Die Autorin Daniela Gassmann empfahl es auch für verregnete Wochenenden, sie habe einfach aus dem Fenster schauen und die Landschaft bestaunen können: „Das ganze Haus fühlte sich an wie eine Meditation für Leute, die nicht meditieren.“
– Das sprach mich unmittelbar an, ich versuchte sofort online zu buchen, fand jedoch keine freien Termine und griff zum Telefon. Der überaus freundliche Hausherr eröffnete mir, dass man – saisonbedingt – Betriebsferien habe, im Ort seien bereits alle Wirtshäuser geschlossen: „Wenn Sie aber kommen möchten, sperre ich für Sie auf, inklusive Sauna und beheiztem Schwimmbad!
Was ich zum Zeitpunkt der Buchung meines Aufenthaltes noch nicht wusste, teilte mir der Hausherr am 19. November – ich war bereits im Elsass – mit: Österreich habe einen landesweiten Lock Down ab 22. November eingerichtet, es gebe dann ein generell es Übernachtungsverbot.
Sein Gasthaus habe allerdings eine Sondergenehmigung zur Beherbergung von beruflich Reisenden, sofern deren Tätigkeit „zwingend erforderlich und unaufschiebbar“ sei – ich würde doch kommen? Tatsächlich entsprach diese Umschreibung exakt dem Charakter meines Beratungsauftrages, und so reiste ich wirklich an. Ich würde einen Tag mit dem MTB die Umgebung erkunden und dann das Haus (im Lock Down) bis zur Fahrt in die Klinik nicht mehr verlassen.
Einem Schwerpunktheft der Zeitschrift „psychosozial“ zum Thema „Kritische Lebenskunst“ ist zu entnehmen, dass diese Kunst nicht auf das große Glück des Lebens zielt, sondern auf die kleinen, unscheinbaren Stilisierungen des Alltags, etwa dem Aufstehen, dem Aus-dem-Fenster-Schauen, dem Frühstück (das mir der dreifach geimpfte Hausherr vor die Tür stellte).
Am Sonntag, 21. November konnte ich auch die Kunst des meditativen Radfahrens üben.
Wer selbst gerne mit dem Rad unterwegs ist, möglichst allein, wird mir wohl zustimmen: Es ist pure Meditation…vor allem in solcher Landschaft…
Manchmal ist es fast wie ein Wunder…
Drei Stunden in dieser Natur auf dem Rad zu sitzen ist ein großes Geschenk. Es wirkt nachhaltig und entschädigt für Tage, an denen ich – es war ja nun Lock Down – die Wohnung nicht mehr verlassen sollte. Wie hatte die begeisterte Journalistin der SZ geschrieben: In dieser Wohnung und in dieser Landschaft reiche es völlig, aus dem Fenster zu schauen. Am frühen Morgen…
Etwas später…es ist bei jedem Blick anders und keineswegs langweilig…
Im Grunde hatte ich in diesen Tagen so gut wie keine persönlichen Kontakte. Ich vertrieb mir die Zeit damit aus dem Fenster zu schauen, ich schlief, besuchte „meine“ Sauna und „mein“ Schwimmbad, kochte minimalistisch und genoss wunderbaren Burgunder, den ich aus einem elsässischen Supermarkt mitgebracht hatte. Und ich las, vor allem über Philosophien der Lebenskunst. Ein anderer Beitrag des Themenheftes diskutiert Wege zum Umgang mit Leiden, der Autor bezieht sich u. a. auf Blaise Pascal. Mit Blick auf die Umtriebe der Menschen in der Politik, im Krieg, im Handel und im Verkehr kommt dieser zu der Ansicht, dass alles Unglück der Menschen nur aus einem Grunde stamme, nämlich dem, dass sie nicht ruhig auf ihrem Zimmer zu bleiben verstehen. Die Menschen kämen mit der Welt, mit sich selbst und mit ihren nächsten Nachbarn nicht ins Reine, und das läge letztlich an der elenden Natur des Menschen. Der einzige, wenn auch verzweifelte Trost ist Pascal der Gedanke an Gott, aber natürlich kommt eine kritische Philosophie der Lebenskunst ganz gut ohne diesen Trost aus und lässt Gott einfach links liegen.
Ein dritter Autor des erwähnten Themenheftes sieht es noch anders: Die Stunde der kritischen Lebenskunst schlägt aus seiner Perspektive genau dann, wenn das Leben als Herausforderung zur Problemlösung erkannt wird. In Anlehnung an Nietzsche versteht er gelingendes Leben als offensives Leben, das den Stier bei den Hörnern packt und dabei auch Scheitern als unausweichlich ansieht… Meine Herausforderung zur Problemlösung war nun eben jene Beratung, die zwingend erforderlich und unaufschiebbar war. Ich verließ also mein ruhiges Apartment, packte meine Sachen, startete das Auto und steuerte die Klinik an. Der Übergang von Rückzug auf Offensive war abrupt, nicht nur wegen des dichten Neuschnees, der während der Fahrt einsetzte.
Die Normalität der Klinik besteht nämlich darin, dass sie aus der „elenden Natur“ der Menschen oder aus deren Not, indem sie Ihnen spürbar hilft, Jahr für Jahr eine beachtliche Rendite erwirtschaftet. Eine Arbeit, die diese innerlich erfüllt, und die sie daher als Privileg erleben. Manchmal aber auch als schwer erträgliche Zumutung, weil sie sie immer wieder bis an die Grenzen und auch darüber hinaus belastet – nicht zuletzt wegen des Zwangs, eine Rendite zu erwirtschaften. Ich fuhr also dahin, wo es in der Arbeit (und in der Beratung) normal paradox zugeht (es könnte jederzeit scheitern, tut es aber bisher nicht). Das, dachte ich später auf der Fahrt zurück nach Norddeutschland, gibt’s natürlich alles nicht nur in Österreich.
– Vielleicht sollten wir alle lernen, dass das normale Leben ohne Paradoxien nicht zu haben ist. Dass es an manchen Tagen besser ist, wenn wir die eigene Wohnung nicht verlassen und uns aus den Umtrieben der Menschen heraushalten. Während es an anderen Tagen gerade darauf ankommt, in die Offensive zu gehen und den Stier bei den Hörnern zu packen. Ziemlich paradox. Ziemlich normal.
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